Tuesday, October 03, 2006

 

Mexico: Aus dem Bericht von Moritz (San Cristobal)

"Nachdem ich zu Hause noch mal den verflixten Subjuntivo wiederholt habe, bin ich Freitags wie immer zum Fußball mit den Kindern von Melel Xojobal, was übrigens Wahrheit des Lichts auf Tsotsil, einer hier weit verbreiteten Indigena-Sprache, bedeutet.
Heute war die Stimmung anders als bei den vorherigen beiden Malen, die Kinder waren launisch und mehr darauf aus sich gegenseitig zu piesacken als zusammen Fußball oder Basketball zu spielen. Das ganze endete in einer kleinen Schlägerei, die schnell von Paulo, einem der Gruppenleiter, beendet wurde. Alle waren ein wenig ratlos, als wir uns daraufhin im Kreis zusammensetzten und über das Problem diskutierten. Die beiden Beteiligten schwiegen. Schließlich vereinbarten wir im Konsens, dass von nun an Regeln für das Spielen bestehen sollten, die Schläge, Hänseleien und Beleidigungen ausschließen sollten. Jeder unterschrieb oder untermalte (manche Kinder können nicht schreiben) den „Vertrag“ und alle fühlten sich ein wenig erleichtert, als beim Weiterspielen nichts weiteres passierte.
Am nächsten Freitag war die Stimmung besser als je zuvor, es machte jedem sichtlich Spaß, sodass wir nach dem Spiel noch im Gras saßen und zusammen ein paar Lieder gesungen und Gitarre gespielt haben. Ich war glücklich und sogar das Wetter spielte heute mit, vielleicht auch weil die Nacht der Unabhängigkeit nahte.
Um elf Uhr Abends erleuchteten Feuerwerke den klaren Nachthimmel von San Cristobal. Kurz vorher hatte der Bürgermeister die Zeremonie von „El Grito“ beendet, er hatte die Namen sämtlicher Unabhängigkeitshelden zusammen mit den Worten „Viva México!“ ausgerufen, was ewig dauerte und seiner Stimme ein wenig schadete. Das Volksfest zum Unabhängigkeitstag war allerdings schon vorher in vollem Gange, der Zócalo war voll Buden, Karussells und anderen Späßen für Kinder. Von überall her schallten Mariachi-Lieder, Trommelwirbel und Trompetenklänge.

Jetzt noch ein bißchen zur politischen Situation hier! Wer fleißig Nachrichten guckt, kann abschalten und diesen Teil überspringen, wer kein Interesse hat auch...
Jedenfalls waren hier ja vor einiger Zeit, im Juli glaube ich, Parlamentswahlen, aus denen die PAN, die konservative Volkspartei Mexikos, mit ihrem Kandidaten Felipe Calderon, von seinen Gegnern spitzzüngig „FeCal“ genannt (ich hoffe, es braucht keine weiteren Erklärungen bezüglich des Spitznamens) als knapper Sieger hervorgegangen ist. Der Gegenkandidat von der linken PRD, Manuel Lopez Obrador, weigerte sich jedoch und weigert sich noch immer, diese Entscheidung anzuerkennen, weil es zu erheblichen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl gekommen sei, wie auch das einberufene Wahltribunal feststellte, dass die Wahlen aber dennoch für gültig erklärte. Vor dieser Entscheidung war es im Zentrum von Mexiko-Stadt zu wochenlangen Massenprotesten gegen Calderon gekommen, die nun, nach der Entscheidung des Tribunals, von Lopez Obrador selbst für kurze Dauer beendet wurden, um parteiintern über das weitere Vorgehen zu beraten. Die Entscheidung des Tribunals wird weiterhin nicht anerkannt, am Tag der Unabhängigkeit verkündete Obrador weitere Schritte wie Boykott der „Wahlkampf-Unterstützerfirmen“ der PAN, allerdings hat sich das ganze inzwischen ein wenig verlaufen und ist zu einer ziemlich polemischen Anti-PAN-Kampagne geworden.
Es bleibt aber abzuwarten, wie es weitergeht...

(...)
„Calles“ arbeitet mit indigenen Kindern und Jugendlichen (bis 15) zusammen, die sich ihr Geld durch Schuheputzen, Bändchenflechten oder kleine Bauchläden (mit Kaugummis, Bonbons, Zigaretten usw.) verdienen und praktisch von früh morgens bis spät abends auf der Straße sind, meist ohne Eltern. Für sie besteht das Problem, dass sie, wenn sie überhaupt zur Schule gehen, keine Unterstützung in Bildungsfragen erhalten, da sie für den Lebensunterhalt der Familien sorgen müssen und so keine Zeit für Hausaufgaben haben.
Mit der Calles-Gruppe besuchen wir die Kinder dienstags, donnerstags und freitags bei ihrer Arbeit und spielen oder plaudern mit ihnen. Wenn sie Lust haben, schließen sie sich uns an und sobald eine größere Gruppe zusammengekommen ist, lassen wir uns irgendwo nieder, basteln, spielen, singen oder erzählen um den Kindern ihren harten Lebensalltag ein bißchen zu erleichtern. Freitags spielen wir alle zusammen auf dem Sportplatz Fußball oder Basketball, turnen herum und lassen die Kinder Kinder sein.

Montags und Mittwochs können die Kinder freiwillig (sofern es die Arbeit erlaubt) ins Projekt kommen und wir gehen in den „Tapanco“ (Dachboden) um zu malen, lesen, den Gebrauch von Computern zu üben oder ein paar englische Worte zu lernen. Mittwochs gibt es sogar einen Film für die Kinder, der allerdings ein sinnvolles Thema, aus dem die Kinder etwas lernen, haben sollte. Vorher machen alle zusammen etwas zu essen.
Die Kinder, mit denen wir zusammenarbeiten, leiden vor allem an Unterernährung, Missbrauch, Gewalt in den Familien, mangelnder Hygiene und anderen schwerwiegenden Probleme. Meist kamen ihre Eltern 1994 in Folge des Zapatisten-Aufstands nach San Cristobal, weil sie in ihren Bergdörfern ungewollt und verstoßen waren, Angst vor Paramilitärs hatten, ihnen alles genommen wurde, was sie noch an Land besaßen und die nun hofften in der Stadt Arbeit zu finden. Da diese nur knapp waren, zogen die Väter meist weiter und kamen nicht zurück. Die Mütter mussten sich neben den Kindern nun auch um Geld kümmern, die Kinder notgedrungen Mithelfen, sodass Bildung zur Nebensache wurde. Es entstanden flüchtlingslagerähnliche Randbezirke, ohne Strom, Kanalisation und Infrastruktur entstanden vom einen auf den anderen Tag ganze Stadtteile aus Holzhütten, Pappe und Wellblech. Und so sehen diese Stadtteile größtenteils heute noch aus, das Land gehört der Stadt, weswegen die Bewohner es nicht bebauen dürfen, es ist im Grunde genommen besetzt. Mit der Zeit siedelte sich der Drogenhandel an, die engen Räume sind oft Ursache von Gewalt, fehlende Hygiene verursacht Krankheiten, Schulen gibt es auch heute nur wenige.
Nachmittags sind wir bei „Sueniños“, das ein wenig außerhalb liegt und von dem netten Österreicher Christian und seiner mexikanischen Frau Alma geleitet wird. Hier sind ca. 30 Kinder ständig anwesend, sie werden in alten VW-Bussen von der Schule abgeholt und erhalten zunächst ein warmes Essen und können duschen. Dann helfen wir bei den Hausaufgaben, beantworten Fragen über Fragen und spielen, wenn die Hausaufgaben gemacht sind, zusammen Fußball oder Improvisationsspiele. Da „Sueniños“ gerade umgezogen ist, werden hier auch viele kreative und handwerkliche Aufgaben auf uns zukommen und kamen auch schon auf uns zu. SO haben wir ein Fußballfeld angelegt, nächste Woche werden die Außenwände gestrichen und ich werde einen Garten anlegen, damit die Kinder eigenes Gemüse oder Kräuter anpflanzen können und mit der Landwirtschaft ein wenig vertraut gemacht werden. Dazu kommt ein Kompost, das Umweltbewusstsein der Mexikaner ist nämlich leider nicht alzu stark.
Die Kinder gehören zu den ärmsten der Stadt, deswegen versucht „Sueniños“ den Eltern einerseits durch Entlastung (Essen, Duschen, Kleidung), aber auch durch Weiterbildungsangebote für die Eltern in den Ferien und die Nachmittagsunterricht für die Kinder weiter zu helfen. Selbst wenn es Probleme mit dem Haus oder der Hütte gibt, springt Christian, der Projektleiter, gerne ein. So besucht er mit uns die Familien der Kinder auch regelmäßig in den „Colonias“ (Stadtteile, lauter kleine Kölns) am Rande der Stadt, die in die Hänge der Hügel gebaut sind und daher noch mehr dem äußerst wechselhaften Wetter ausgesetzt sind, als wir es ohnehin schon in der Stadt sind.
So sieht es also aus im Leben eines Freiwilligen in Mexiko...
Demnächst beginnt auch die Arbeit der Freiwilligenzeitung „Schwarz auf Wise“, an der ich mich auch beteiligen will und werde, die erste Ausgabe erscheint Ende Dezember mit Berichten von Freiwilligen aus aller Welt. Ich hoffe, ich kann auch da meinen Teil zu einer sinnvollen Arbeit beitragen, einige Artikel habe ich schon angefangen, allerdings ist unser Leben hier mit der Arbeit jetzt bestens gefüllt, sodass wir vieles auf das Wochenende oder unseren freien Nachmittag legen müssen.
Und so verfliegt die Zeit und es ist schon Oktober....

Alles Liebe und Gute aus Mexiko! Que les vaya muy bien! Suerte!
Euer Moritz."

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